Psychologie

Interview mit Freunde fürs Leben

Der Verein Freunde fürs Leben e. V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, in sozialen Netzwerken und in der Öffentlichkeit über seelische Gesundheit und Suizid aufzuklären. »Rede darüber!« ist ihr Motto gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Junior-Projektkoordinatorin Julia Schmidt erklärt, wie der Verein hilft, Suizide zu verhindern.

05.05.2021

Interview mit Freunde fürs Leben | Psychologie Depression seelische Gesundheit Interview

Das Kernteam von Freunde fürs Leben mit den Gründern Gerald Schömbs und Diana Doko (Mitte) und den Projektkoordinatorinnen Julia Schmidt (links) und Amelie Schwierholz (rechts).

BIO: Freunde fürs Leben klären seit 20 Jahren über Suizidgefahr und seelische Gesundheit auf. Sind Sie Ihrem Ziel, die Gesellschaft für diese Themen zu sensibilisieren, näher gekommen?

Julia Schmidt: Als Diana Doko und Gerald Schömbs den Verein gründeten, waren die Suizidzahlen noch deutlich höher als heute. Sie stagnieren allerdings seit zehn Jahren auf einem relativ konstanten Niveau. Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland immer noch fast 10.000 Menschen das Leben – darunter sind 520 Jugendliche und junge Erwachsene. Wir fordern daher, psychische Erkrankungen auf die gesundheitspolitische Agenda zu bringen. Denn noch immer fehlt eine staatlich geförderte Aufklärungskampagne für Depression und Suizid.

Unserer Vision kommen wir aber näher: Die Offenheit, über seelische Gesundheit zu sprechen, ist gestiegen. Das merken wir am Austausch auf Social Media, in Gesprächen und in den Medien. Es zeigt sich zudem, dass die Hemmschwelle, Hilfsangebote anzunehmen, gesunken ist. Durch die Corona-Pandemie sind zum Beispiel eine Vielzahl effektiver Online-Hilfsangebote ermöglicht worden. So kann Menschen in Krisensituationen auch in Zeiten von Kontaktbeschränkungen geholfen werden. Allerdings hinterlässt die Pandemie auch ihre seelischen Spuren: Die Anzahl und die Länge der Krankschreibungen ist deutlich gestiegen. Derzeit haben Menschen vor allem mit Depressionen und Angststörungen zu kämpfen. In dieser herausfordernden Zeit ist es umso wichtiger, Warnsignale zu kennen und in Kontakt miteinander zu bleiben.

Freunde fürs Leben organisieren den Flashmob 600 Leben in Berlin

Mit dem Flashmob »600 Leben« vor dem Brandburger Tor bringen Freunde fürs Leben seelische Gesundheit in die Öffentlichkeit.

BIO: Wird die Depression mittlerweile in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen?

Julia Schmidt: Laut einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer werden psychische Erkrankungen nicht mehr so stigmatisiert wahrgenommen wie noch vor 15 Jahren, und die Bereitschaft, sich professionelle Hilfe zu suchen, ist gestiegen. Das deckt sich auch mit den Erfahrungen unserer Vereinsarbeit: Das Thema seelische Gesundheit rückt immer mehr in den Fokus von Jugendlichen und jungen Erwachsenen – sei es durch Identifikationsfiguren wie Influencer*innen und Prominente, die seelische Gesundheit und Krisen thematisieren, oder durch Aufklärungs- und Hilfsangebote im Schul- und Unikontext. »It’s okay not to be okay« wird zum Motto – denn jede*r hat mal schwierige Phasen. Hilfesuchen und -annehmen sind dabei wichtige Schritte, die mit größerer Selbstverständlichkeit mitgedacht werden.

BIO: Sie helfen durch Aufklärung, Betroffenen und ihrem Umfeld, Signale frühzeitig zu erkennen und Hilferufe besser zu deuten. Wie geschieht das?

Julia Schmidt: Freunde fürs Leben teilen auf der Webseite frnd.de >> und den Social Media-Kanälen Instagram >> und Facebook >> lebensrettendes Wissen: Wir vermitteln, was psychische Erkrankungen sind, auf welche Warnsignale bei Depression und Suizid geachtet werden muss und wo man Hilfe bekommt. Wir animieren dazu, darüber zu reden, und machen auf gesundheitsfördernde Faktoren aufmerksam. In unserem Hilfsangebote-Finder >> können Betroffene und Angehörige nach Region, Alter und Art des Angebots wichtige Anlaufstellen finden. Außerdem haben wir spezielle Hilfsangebote für Belastungen in der Corona-Pandemie >> zusammengestellt. Wir sind davon überzeugt, dass durch gezielte Informationsvermittlung Suizidprävention möglich ist.

In Interviews mit Prominenten, Expert*innen und Betroffenen auf unserem YouTube-Kanal frnd.tv >> und in unseren Podcasts >> wollen wir zudem mehr Aufmerksamkeit für seelische Gesundheit und Krisen schaffen. Indem wir darüber reden und Vorurteile durch Wissen ersetzen, können wir psychische Erkrankungen entstigmatisieren.

Freunde Fürs Leben ermutigen in ihrer Corona-Plakatkampagne dazu, miteinander zu sprechen

Sprecht miteinander! Freunde fürs Leben ermutigen Menschen in ihrer Plakatkampagne in Kontakt zu bleiben – besonders während der Corona-Pandemie.

BIO: Welche Alarmsignale bei Jugendlichen sollten stets hellhörig machen?

Julia Schmidt: Es gibt eine Vielzahl von Warnsignalen, die darauf hindeuten, dass jemand suizidal ist. Nicht jede Person, die ein oder mehrere Anzeichen zeigt, ist suizidgefährdet. Und nicht jede Person, die suizidgefährdet ist, zeigt dieselben Anzeichen.

Gefahr besteht vor allem dann, wenn jemand Suizidgedanken äußert oder bereits einen Suizidversuch begangen hat. Aber auch, wenn sich eine depressive oder suizidgefährdete Person sehr plötzlich besser fühlt, sollte man wachsam sein. Die Person kann sich zum Beispiel erleichtert fühlen, weil sie die Entscheidung getroffen hat, sich das Leben zu nehmen. Wenn diese Warnsignale bei einer Person auftreten, ist es wichtig, sie nach konkreten Suizidgedanken und -absichten zu fragen.

Warnsignale sind Symptome, die man sehen, hören und fühlen und an denen man Suizidalität erkennen kann. Risikofaktoren hingegen sind unterschiedliche Merkmale, Umstände und Charaktereigenschaften, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Person suizidgefährdet ist, weil sie es schwerer hat, mit Krisen umzugehen. Bei Jugendlichen sind dies besonders häufig ein traumatischer Verlust einer geliebten Person, Auseinandersetzung mit der sexuellen Orientierung beziehungsweise Identität, geringe soziale Unterstützung, Mobbing- und Gewalterfahrungen.

BIO: Wie ist das Feedback bei denen, die Sie mit Ihrer Arbeit damit erreichen wollen?

Julia Schmidt: Wir bekommen immer wieder Dank und Lob für unsere wirksame Aufklärungsarbeit. Unser Ziel ist es, auf greifbare, niedrigschwellige Art und Weise Depression und Suizid zu erklären, übersichtlich Hilfe darzustellen und zu animieren, darüber zu reden. Nach der Veröffentlichung einer neuen Podcastfolge oder eines neuen YouTube-Beitrags melden sich immer wieder Zuschauer*innen und Hörer*innen, um sich mit uns auszutauschen – und auch in der Kommentarspalte auf unseren Social-Media-Kanälen teilen die Menschen ihr Wissen, ihre Sorgen und was sie an unseren Beiträgen bewegt hat.

BIO: Wie wird man Freund oder Freundin fürs Leben?

Julia Schmidt: Als Freund oder Freundin fürs Leben unterstützt man den Verein mit monatlichen Beiträgen. Da Freunde fürs Leben gemeinnützig arbeiten, wird durch diese Hilfe unsere Arbeit ermöglicht.

Darüber hinaus freuen wir uns, wenn Interessierte Lust haben, ihre Erfahrungen mit seelischer Gesundheit und Depression auf unserem Blog >> zu teilen. Außerdem kann jede*r Einzelne mit wenigen Klicks dabei helfen, seelische Gesundheit und psychische Krisen zu enttabuisieren: Indem sie unsere Beiträge in den sozialen Netzwerken teilen, lernen mehr Menschen etwas über Depression und Suizid – und umso mehr können wir uns gegenseitig helfen und verstehen.

Das Interview führte Annerose Sieck.

 

Die wichtigsten Anlaufstellen bei Depression oder Suizidgedanken:

Telefonseelsorge – anonyme, kostenlose Beratung rum die Uhr: Tel. (0800) 111 0 111 oder (0800) 111 0 222
telefonseelsorge.de >>

Patientenservice der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: 116 117.

Ambulanz der psychiatrischen Abteilung einer Klinik vor Ort – in jedem Fall bei Suizidgedanken.

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