Psychologie

AD(H)S bei Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen mit AD(H)S erhalten viel seltener eine Diagnose als Männer und Jungen, denn ihre Symptome fallen weniger stark auf: Sie sind weniger hyperaktiv, dafür verträumt, unaufmerksam und vergesslich. Bleibt ihre Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung unbehandelt, kann das weitreichende Folgen haben, etwa dem Selbstwertgefühl schaden und Erkrankungen nach sich ziehen. Die AD(H)S-Expertinnen Dr. Christine Carl, Dr. Ismene Ditrich, Dr. Christa Koentges und Dr. Swantje Matthies wissen, wie Betroffene mit ihrer Besonderheit Frieden schließen, ihre vielen Stärken entdecken und gut mit AD(H)S leben können.

08.10.2024

AD(H)S bei Frauen und Mädchen | AD(H)S Psychologie Frauen Mädchen

Von links nach rechts: Dr. Ismene Ditrich, Dr. Christine Carl, Dr. Swantje Matthies und Dr. Christa Koentges

BIO: Was genau versteht man unter AD(H)S und welche Symptome gehen damit einher?

Dr. Christine Carl: Die Abkürzung AD(H)S steht für die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Die damit einhergehenden Symptome treten vor dem zwölften Lebensjahr auf und stammen aus den Bereichen Denken, Aktivität, Impulsivität und Affekt, also die Stimmung betreffend. Unter den Hauptsymptomen, anhand derer die Diagnose gestellt wird, gibt es zunächst die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme. Damit ist die Schwierigkeit gemeint, die Aufmerksamkeit und die Konzentration über eine längere Zeit auf eine Tätigkeit zu richten, die ohne Neuigkeitswert ist und/oder kein Interesse auf sich zieht. Für Kinder können das beispielsweise Hausaufgaben oder das Ausräumen der Spülmaschine sein, für Erwachsene die Steuererklärung, das Lesen langwieriger Texte oder Haushaltsaufgaben. Das zweite Hauptsymptom ist die motorische Unruhe, auch Hyperaktivität genannt. Klassischerweise ist damit ein Verhalten wie das vom Zappelphilipp im »Struwwelpeter« gemeint, mit seinem Zappeln, Kippeln, Herumhampeln. AD(H)S kann sich aber auch mehr innerlich zeigen und äußert sich zum Beispiel in einer inneren Unruhe, in einem Sich-getrieben-Fühlen und Unter-Strom-Stehen. Eine motorische Unruhe kann aber auch gänzlich fehlen. Das dritte Kernsymptom ist die Impulsivität. Gemeint ist damit, dass Betroffene aus dem Affekt, also wenig überlegt, handeln und überschießend – zum Beispiel mit Schreien oder Beleidigungen – reagieren.

Zitat von Dr. Christine Carl: Aufgrund von Scham-, Schuld- und Versagensgefühlen entwickeln Mädchen ausgeklügelte Versteck-und-Verdeck-Mechanismen und nehmen oft sehr viel auf sich, um nicht aufzufliegen.

BIO: Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch speziell auf AD(H)S bei Frauen und Mädchen. Inwiefern äußert sich die Erkrankung bei ihnen anders als bei Männern und Jungen?

Dr. Christine Carl: Mädchen scheinen häufiger am Subtyp ADS zu leiden, sie weisen in Studien im Vergleich zu Jungen insgesamt weniger hyperaktiv-impulsive Symptome auf. Ihre Probleme werden dadurch erstmal weniger schnell erkannt, da ihre Verträumtheit und/oder Abgelenktheit in der Schule weniger stören als laute oder auch als oppositionell erlebte Jungs. Oft zeigen betroffene Mädchen daher erst zu Beginn der Pubertät Schwierigkeiten wie zum Beispiel chaotisches Verhalten, Unzuverlässigkeit oder Impulsivität. Das führt wiederum dazu, dass die Auffälligkeiten dann nicht mehr einer AD(H)S, die ja eigentlich früher beginnt, zugeordnet werden, sondern der beginnenden Pubertät.

Mädchen und Jungen, Frauen und Männer gehen weiterhin unter schiedlich mit den Schwierigkeiten um, die durch die AD(H)S entstehen. Tendenziell passen Mädchen und Frauen sich stärker an als Jungen und Männer. Sie treten sozial verträglicher auf und implodieren, das heißt sie »explodieren« nach innen und schlucken Gefühle eher herunter, statt mit ihren Impulsen und ihrer Energie nach außen zu gehen. Schwierigkeiten mit der Konzentration kompensieren Mädchen im Grundschulalter – soweit möglich – mit ihrer Bereitschaft sich anzupassen und sich anzustrengen. Wenn es Schwierigkeiten beim Lernen gibt, schreiben sie diese eher ihrem eigenen, vermeintlichen Unvermögen zu. Das bedeutet, sie geben sich selbst die Schuld an den Problemen und sagen sich: »Ich bin einfach zu dumm/zu faul« oder »Ich bin eine Versagerin«. Aufgrund von Scham-, Schuld- und Versagensgefühlen entwickeln Mädchen ausgeklügelte Versteck-und-Verdeck-Mechanismen und nehmen oft sehr viel auf sich, um nicht aufzufliegen.

BIO: Und deshalb bleibt AD(H)S bei Frauen und Mädchen oft unbemerkt?

Dr. Ismene Ditrich: Genau, durch die Kompensationsbemühungen der weiblichen Betroffenen sind sie weniger auffällig, sodass erst zu einem späteren Zeitpunkt ein Problem vermutet wird. Manchmal geben erst andere psychische Schwierigkeiten wie beispielsweise Depressionen oder Ängste, die sich in der Folge einer AD(H)S entwickeln, den betroffenen Mädchen und Frauen einen Anlass, zu einer Psychotherapeutin und Ärztin zu gehen. Und solange diese Probleme nicht behandelt sind, ist es schwierig, AD(H)S zu diagnostizieren. Wir vermuten aber auch, dass sich AD(H)S bei Frauen und Mädchen schwieriger diagnostizieren lässt, weil sich ihre Symptome nicht zuverlässig mit den Diagnosekriterien decken. Diese Kriterien beschreiben nämlich die klassisch männliche Variante der Störung. Die Symptome, die das Gefühlsleben von Frauen betreffen, wie zum Beispiel starke Stimmungsschwankungen, Gefühlsausbrüche und eine geringe Frustrationstoleranz, sind in den derzeitig geltenden Kriterien nicht wirklich von Bedeutung.

BIO: Sie schreiben, dass es auch weibliche Rollenstereotype sind, die eine AD(H)S-Diagnose verhindern.

Dr. Ismene Ditrich: Wir beobachten in den Gesprächen mit Betroffenen und Angehörigen, dass AD(H)S-typische Verhaltensweisen bei Mädchen und Frauen – passend zu weiblichen Rollenstereotypen – anders bewertet werden als bei Jungs und Männern. Zeigen Frauen starke Gefühlsschwankungen, Redseligkeit oder Impulsivität, wird das oft als Hang zum Drama interpretiert, teils auch als Geltungssucht. Bei Jungen und Männern werden laute Verhaltensweisen nicht im gleichen Maße als besonders oder als Defizit angesehen. In den Grundschulzeugnissen von Mädchen steht oftmals, sie wollten sich »in den Mittelpunkt spielen«, bei Jungen steht, sie seien lebhaft oder wollen gerne der Erste sein. Diese unterschiedliche Bewertung der gleichen Verhaltensweisen kann die diagnostische Beurteilung beeinflussen.

BIO: Welche Folgen können sich für Mädchen und Frauen ergeben, wenn ihre Krankheit nicht diagnostiziert wird?

Dr. Ismene Ditrich: Eine Reige von psychischen Folgeerkrankungen können sich als Folge einer unbehandelten AD(H)S entwickeln. Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen sind nur einige Beispiele. Aber auch körperlich ergeben sich oft Probleme. Bei jungen Frauen mit AD(H)S kommt es öfter zu ungewollten Schwangerschaften als bei AD(H)S-freien Gleichaltrigen. Impulsives Essverhalten kann zu Gewichtsproblemen führen, was wiederum das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht. Das regelmäßige Aufsuchen von Vorsorgeuntersuchungen aller Arten, und sei es nur die regelmäßige Zahnprophylaxe, fällt Frauen mit AD(H)S oft schwer, mit allen Konsequenzen. Allerdings verschwinden diese Schwierigkeiten auch nicht mit der Diagnosestellung. Aber man kann in der Therapie natürlich deutlich besser daran arbeiten, wenn man weiß, womit man es zu tun hat. Fast immer hören wir von Frauen infolge einer lange unerkannt gebliebenen AD(H)S negative Annahmen über die eigene Person. Wenn die eigene Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit aufgrund der AD(H)S so starken Schwankungen unterliegt und sich nicht steuern lässt, können sich Selbstkonzepte im Sinne von »Ich bin so dumm« oder »Ich bin zu faul« oder »Ich kann mich nicht auf mich verlassen« entwickeln, die die Sicht auf die eigene Person und die Welt sehr stark prägen.

BIO: Welche Strategien entwickeln Frauen mit AD(H)S, um im Leben, zum Beispiel im Beruf, besser klarzukommen?

Dr. Christa Koentges: Das kann sehr unterschiedlich sein. Oft entwickeln Frauen mit AD(H)S ganz automatisch Strategien, um die Symptomatik zu kompensieren – oft auch ohne zu wissen, dass es sich um AD(H)S handelt. Das kann im Alltag so aussehen, dass sie den Wohnungsschlüssel immer nur an einer bestimmten Stelle ablegen, weil sie ihn sonst leicht verlieren würden. Oder dass sie sich alles, woran sie denken müssen, auf Listen und Zetteln notieren beziehungsweise sehr konsequent einen Kalender oder Wochenplaner führen. Viele Frauen machen auch viel Sport als Ausgleich zur Arbeit, weil sie ihre Gefühle so insgesamt besser regulieren können. Es gibt aber auch dysfunktionale Strategien wie den Gebrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten oder risikoreiches Verhalten, zum Beispiel gefährlich Auto zu fahren. Wenn man von der Diagnose weiß, dann gibt es die Möglichkeit, im Rahmen einer Therapie ganz gezielt nach Bereichen im Leben zu suchen, in denen es die Betroffenen eher schwer haben, um dann gemeinsam Strategien für einen besseren Umgang mit den Problemen zu suchen. Da können Frauen zusammen mit dem Therapeuten oder der Therapeutin ganz kreative Ideen entwickeln.

BIO: Psychische Begleiterkrankungen werden bei einer AD(H)S-Diagnose häufig beobachtet. Welche sind das?

Dr. Christa Koentges: Das Spektrum reicht von Suchterkrankungen über Ängste, depressive Erkrankungen, Traumafolge- und Schlafstörungen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen. Es ist so, dass das Vorliegen einer AD(H)S-Symptomatik die Entstehung dieser Erkrankungen eher begünstigt. Gleichzeitig ist es schwieriger, mit der AD(H)S-Symptomatik umzugehen, wenn ein Mädchen oder eine Frau zeitgleich unter einer solchen Begleiterkrankung leidet, weil die Person dadurch ja insgesamt stärker belastet ist und über weniger freie Ressourcen zur Kompensation verfügt. Auf der anderen Seite ist es wichtig zu sagen, dass man nicht zwingend mit einer AD(H)S auch eine weitere psychische Erkrankung entwickelt. Aufgrund der höheren Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu nicht an AD(H)S leidenden Menschen ist es für die Frauen sowie für ihr Umfeld bis hin zu den Ärzt*innen und Therapeut*innen aber gut, hier sensitiv und aufmerksam zu sein, um eine Begleiterkrankung möglichst frühzeitig erkennen und gegebenenfalls behandeln zu können.

BIO: Empfinden es die Betroffenen als entlastend, zum Beispiel für ihre Selbstwahrnehmung, wenn sie die Diagnose kennen?

Dr. Christa Koentges: Da gibt es, wie so oft, zwei Seiten. Einerseits können Mädchen oder Frauen die Diagnose als sehr entlastend empfinden, das erleben wir häufig. Wenn eine Person früher gedacht hat: »Ich bin einfach zu blöd/zu faul/zu dumm«, gibt es nun ein alternatives, dem Selbstwert stärker dienliches Erklärungsmodell. Wir versuchen in der Therapie darauf hinzuarbeiten, diesen entlastenden und auch korrigierenden Effekt bei der Betroffenen zu erzielen. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch sein, dass die Diagnose dazu beiträgt, dass ein Mädchen oder eine Frau die eigene Person pathologisiert, also anfängt, sich selbst als irgendwie krank, falsch oder defizitär zu empfinden. In der Regel hilft hier eine ausführliche Aufklärung, die sowohl die Probleme als auch natürlich die Stärken im Zusammenhang mit einer AD(H)S in den Blick nimmt, das können zum Beispiel Begeisterungsfähigkeit, Kreativität oder eine stark ausgeprägte Feinfühligkeit sein. Wichtig ist auf jeden Fall zu fragen, was die Diagnosestellung für die Patientin bedeutet, um sie auch auf ihrem Weg zu einem selbstwertfreundlichen, das heißt aktiven und gleichzeitig nicht verurteilenden oder abwertenden Umgang mit der AD(H)S gut unterstützen zu können.

BIO: Was sind gängige Behandlungsmöglichkeiten bei AD(H)S?

Dr. Swantje Matthies: Die Leitlinien empfehlen eine sogenannte multimodale Behandlung, deren Elemente – medikamentöse Behandlung, Beratung, Coaching und Psychotherapie – nach den Wünschen der Betroffenen und mit diesen zusammen nach ausführlicher Aufklärung über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten ausgewählt werden sollen. Sehr wirksam und in der Regel auch sehr gut verträglich ist die medikamentöse Behandlung mit AD(H)S-spezifischen Medikamenten. Bedeutsame Unterstützung kann aus einer psychotherapeutischen Behandlung erwachsen, die den Betroffenen im Umgang mit der Diagnose, der Symptomatik und den oft mit AD(H)S einhergehenden Problematiken und Beschwerden hilft. Das können beispielsweise Selbstwertprobleme und Vermeidungsverhalten sein, oder risikoreiches und impulsives Verhalten.

Zitat von Dr. Swantje Matthies: Frauen mit AD(H)S sind offen für Neues und bereit, sich begeistert und mit hoher Energie in neue Projekte zu stürzen.

BIO: Können sich Betroffene selbst Methoden aneignen, die ihren Alltag erleichtern?

Dr. Swantje Matthies:  Ja, klar. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sich den Alltag leichter zu machen. Das reicht von Skills, die Frauen konsequent einüben und dadurch das Chaos eindämmen oder ihre Aufschieberitis in den Griff bekommen können, bis hin zum Üben von Achtsamkeit. Achtsamkeit ist eine sehr gute Möglichkeit zu lernen, immer aufmerksamer und stärker fokussiert zu werden und effektiv Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, was in vielen Lebenslagen sehr hilfreich sein kann.

BIO: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch AD(H)S-typsiche Ressourcen. Welche können das sein?

Dr. Swantje Matthies:  Frauen mit AD(H)S sind offen für Neues und bereit, sich begeistert und mit hoher Energie in Projekte zu stürzen. Sie denken vernetzt und bereichern die Arbeit im Team oft durch unkonventionelle Ideen und spontane Hilfsbereitschaft. Sie können den Moment nutzen und mit hohem Tempo neue Entwürfe vorlegen. Neugierig wenden sie sich verschiedenen Themen zu. Sie brauchen Anregung und scheuen die Langeweile. Sie sind dort zu finden, wo Abwechslung und Lebendigkeit geboten sind.

Das Interview führte Christine Fischer.

Bearbeitung durch die Onlineredaktion (km)

Mehr über AD(H)S bei Frauen und Mädchen erfahren Sie in:

Buchcover von »Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S«Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S. Warum sie so besonders sind und was sie stark macht »

Dr. Christine Carl, Dr. Ismene Ditrich, Dr. Christa Koentges, Dr. Swantje Matthies

Beltz

240 Seiten, 20 Euro

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